Operationen am öffentlichen Körper

Über das Verhältnis von Skulptur und Bühne im Werk Karl Karners

Katalog: Karl Karner in der Sammlung Wolf

Filigrane, von Grünspan überzogene Skulpturen bilden Karl Karners jüngste Werkgruppe. Prima vista sehen die blasenartigen Gebilde aus wie die Bleiguss-Orakel einer Silvesternacht, deren Erkenntniswert zwischen Wahrsagerei und Prophetie schwankt. Tatsächlich bilden sich durch eine technisch raffinierte Behandlung des Wachsmodells die bizarren Formen zufällig. Ab dann steuert aber der Künstler den Entstehungsprozess: welche Teile er zusammenfügt und mit welchen anderen Materialien (Äste, Zahnstocher, Ton…) er sie kombiniert, obliegt seiner Verantwortung. Nach dem Guss wird die Bronze farblich veredelt. Sie bekommt durch die chemisch herbeigeführte Oxidation des Kupfers in der Bronze ihren giftigen blaugrünen Überzug. Die Skulptur setzt binnen Minuten Grünspan an. In manchen dieser erstarrten Mondlandschaften verfangen sich später plastifizierte Insekten oder bunte Federn oder Tränen aus Silikon. (26, 27,28, 29)[1]

 „alan greenspangrünspan“ ist gleichzeitig der Titel des Bühnenstücks, das Karl Karner gemeinsam mit Linda Samaraweerová 2011 choreografiert hat. Es beginnt mit einem Interview als Vorspiel vor dem Theater: eine um Einblick in die Finanzwelt bemühte Gesprächspartnerin scheitert am schweigsamen, Karten spielenden Alan Greenspan. Greenspan war realiter als langjähriger amerikanischer Notenbank-Chef ebenso mächtig wie legendär. Wie das delphische Orakel bewegten Greenspans bewusst vage gehaltenen Andeutungen die Welt und die Börsenkurse in schwer vorhersehbarer Weise. Wurden seine Äußerungen zur self-fulfilling oder zur self-destroying prophecy?
Und darum geht es auch in Karners/ Samaraweerovás Stück: um Erwartungshaltungen des Publikums und dessen Reaktionen auf das bewusst Vage als künstlerische Erfahrung. Was erwarten wir, wenn wir ins Theater gehen? Wie verhalten wir uns in Ausstellungen? Wie ist die Balance von Zufall und Notwendigkeit in der Kunst? Schließlich öffnen sich die Theatertüren, das Publikum strömt in den dunklen Saal, die Performance kann beginnen. Manche (wahrscheinlich die Theaterexperten) nehmen sofort auf den Stühlen Platz, die die offene Bühne umgeben. Andere (wahrscheinlich die Kunst-Affinen) betrachten zunächst die kleinen surrealen, mit Grünspan überzogenen Skulpturen Karners, die auf einem langen Tisch präsentiert werden. An den Wänden laufen drei Videos. Mehr passiert nicht, die Bühne bleibt stumm wie Greenspan. (22, 23, 32, 33)

Die Verquickung von bildhauerischer Arbeit und Bühnenstück als choreografierte Performance ist bezeichnend für das bisherige Schaffen von Karl Karner. Manche seiner Skulpturen, wie die Schnabelmaske oder der Pokal, werden zu Requisiten auf der Bühne. Sie erlangen dadurch ikonografische Bedeutung innerhalb des Werks.
Karner arbeitet als klassischer Bildhauer mit sehr vielen unterschiedlichen Materialien vom Edelmetall bis zu Dekorationsobjekten aus dem Baumarkt. Ihn interessieren dabei die unterschiedlichen ästhetischen Reize von Luxusgegenstand und Tand. Gleichfalls sind auf der Bühne sämtliche Medien zugelassen: Sprache, Skulptur, Tanz, Performance, Musik, Video, wodurch die Grenzen zwischen bildender und darstellender Kunst verfließen. „Anything goes“ als künstlerische Maxime.
In der Offenheit der Mittel liegt aber auch die Schwierigkeit für jede spontane Rezeption der Bühnenstücke, die als Gesamtkunstwerke multisensorisch wahrzunehmen sind. Die vom klassischen Theater geforderten Einheiten von Raum, Zeit und Ort sind nicht mehr vorhanden. Das Bühnenbild ist eine auf wenige Teile reduzierte Installation Karners/ Samaraweerovás, die einen situativen Kontext für die Handlung darstellt. Skulpturen sind auf der Bühne verteilt, sie kommen in der Aufführung zum Einsatz. Die Handlung folgt einer komplexen Choreografie der einzelnen Szenen.
Für den Zuschauer gibt es zwei Möglichkeiten dem raschen Verlauf zu folgen. Zum einen bietet die Verwendung der ikonografischen Skulpturen einen Schlüssel zum Werk, zum anderen hilft die Beobachtung dessen, wie die Szenen durch den Einsatz der Medien verknüpft sind. Da der Zuschauer keine Textgrundlage hat, muss er, um zu verstehen was passiert, sich voll auf Bild und Bewegung konzentrieren.

Karl Karner und die Choreografin Linda Samaraweerová produzieren seit 2006 jährlich ein Bühnenstück, das speziell für den jeweiligen Aufführungsort inszeniert wird. Bisherige Produktionen sind „Travel Delights“ (2006), „Körperlichkeit und Virtuosität“ (2007), „Geländer höhergestellt“ (2008), „karl karner gestorben am…“ (2008), „I THINK WE HAVE A GOOD TIME – chanson de geste“ (2010), „alan greenspangrünspan“ (2011). Solche Grenzgänge zwischen Skulptur und Bühne vollziehen weltweit nur wenige Künstler. Paul McCarthys aggressive Performances, die den amerikanischen Traum in die Niederungen obsessiven Trieblebens ziehen oder Jan Fabres alle Schmerz- und Erschöpfungsgrenzen übersteigende Tanztheater-Performances können als Vergleich dienen.

Den thematischen Rahmen der Bühnenstücke bildet stets eine durchaus aufklärerisch gemeinte Reflexion über soziale Normen, unbewusste Verhaltensweisen und tradierte Gewohnheiten; Fragen, wie wir durch Enkulturation geprägt werden. „Wir alle spielen Theater“ könnte als Generalthema über den Bühnenstücken stehen. Immer geht es um Selbstdarstellung im Alltag, um Identität und Rollenbilder, um Öffentlichkeit und Privatheit. Zur Darstellung des öffentlichen Körpers erfand Karl Karner eine Maske mit einem Entenschnabel. Sie entstand aus einer Skulptur, der liegenden Figur „OT“ (2003) (46, 47). Das Schnabelwesen, halb Mensch, halb Tier, steht für „man“, das zahlreiche Individuum, den Menschen als Insekt, dessen Bewusstsein die veröffentlichte Meinung ist, dessen Verhalten gedankenlos ritualisiert ist, der sein Heim mit heimeligem Kitsch garniert und der Pokale als Trophäen sammelt.
An der Maske des öffentlichen Körpers und am Fetisch des Pokals zeigt sich exemplarisch, wie lange und intensiv Karner/ Samaraweerová an ihrer Ikonografie arbeiten. Die rote Maske mit Haarschopf entstand aus einer bildhauerischen Idee, diente in mehreren Bühnenstücken für Maskentänze und mutierte in „I THINK WE HAVE A GOOD TIME – chanson de geste“ zur Fratze, die Karl Karner in der Aufführung aus einem Tonklumpen auf seinem Kopf formt und sich herunterreißt bis sie zur Totenmaske im Video von „alan greenspangrünspan“ wird. (59, 60, 61, 62) Eine ebensolche ikonografische Metamorphose durchläuft der Pokal. Karner dekliniert seine Bedeutung im Laufe der Jahre/ der Verwendung in den Bühnenstücken vom Zeichen des Triumphs über ein Symbol kindlich-naiver Erfolgserlebnisse bis zum Gralskelch-Mythos von Tod und Transfiguration. Wie sehr sich der Symbolgehalt kultur- und zeitbedingt auch ändern mag, das Bedürfnis nach Symbolen ist der Menschheit wesenhaft eigen. In „A prize for me“ (2007) wird das Motiv der Selbstbelohnung zelebriert. Das Schnabelwesen krönt sich mit einem Pokalkelch, der heute - außer sonntags - keine religiösen Konnotationen mehr hat, sondern mit dem es sich selbst weiht und als wertvoll anerkennt. (57, 58)

Karl Karner ist ausgebildeter Kunstgießer und weiß durch seine berufliche Praxis bestens Bescheid über bildhauerisches Material und die Möglichkeiten seiner Bearbeitung. Dieses angewandte Wissen ist an keiner Schule für Industrieguss zu erwerben. Sein Know how entstammt der mündlichen Instruktion unter Kollegen. Wie mittelalterliche Handwerksbetriebe haben Kunstgießer-Werkstätten heute wie damals ihre eigenen Tricks und Kniffe, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wichtig für den Guss ist die Metallmischung und die ständige Präsenz des Gießers am Werkstück bis zum Abschluss der Arbeiten. Fragen über Oberflächenbehandlung und über den Umgang mit Gussfehlern, die vielen Bildhauern fremd sind, thematisiert Karl Karner bewusst in seinen Arbeiten. Das Spiel mit den Farbqualitäten seiner Skulpturen treibt er zu einer Meisterschaft, die ihn gegenüber anderen Künstlern auszeichnet. Karl Karner schöpft das gesamte Spektrum der Oberflächenbehandlung mit Chemikalien und mechanischen Möglichkeiten aus und erzielt dadurch Nuancen, um den künstlerischen Ausdruck zu intensivieren. Mehr noch, er versetzt die Skulptur durch die Oberflächengestaltung in eine bestimmte Zeit. „Schwarz matt“ steht für das Jetzt. (67,68) Hingegen verweisen die metallisierenden Spiegelleisten auf die Ästhetik der 70er und 80er Jahre. Die Skulptur bekommt bei Karner damit zusätzlich eine zeitliche Dimension.
In der Installation „Bronze, Bronze, Bronze“ (2008) ist dieser Vorgang der künstlerischen Alchemie des Metalls thematisch. Sie erzählt vom Umgang mit Bildwerken im öffentlichen Raum, deren Schicksal es ist, berührt oder besudelt, bestenfalls bestaunt zu werden. Auf einem Sockel ruht eine große phallische Form, deren Spitze glänzend poliert ist und kleine Poren aufweist. Vom Sockel führen zwei Schläuche weg. Einer sammelt Vogelkot, der andere Urin. Die Exkremente von Vögeln und Menschen, die den öffentlichen Platz benutzen, werden in die Spitze geleitet. Wer kann schon der Versuchung widerstehen die polierte Spitze der Bronze, Bronze, Bronze zu berühren? (50/3)

Karl Karner arbeitet bevorzugt in Werkserien. Seine ersten bildhauerischen Werke ab 1991 waren drahtig-schlanke menschliche Figuren (12/2, 12/7, 13/5), eine Mischung aus Giacomettis Fadenmenschen und altägyptischem Exerzierschritt. Sie lassen sich gerne bei „Sexgedanken“ oder deren Ausführung ertappen. (74,75) Ab 1998 beginnt Karners Tierleben: Hasen, Eichhörnchen, Kühe, Affen, denen weder die Fabelwelt Äsops noch das Menschlichste fremd ist .(12/1) Die unverkrampfte Sexualität als fröhliche Freizeitgestaltung ist ebenso beliebt wie der Ausscheidungsprozess. Manche können dabei ordentlich stinken, wie die Kuh im Wachsbett durch deren Trichter am Kopf der Künstler echten Kuhmist eingefüllt hat. Ist das riesige Eichhörnchen, der Protagonist aus „karl karner gestorben am…“ womöglich gar nicht aus Schokolade? Ist es eine Referenz an McCarthys aufblasbare schokoladenbraune Riesenskulpturen, die ganz andere Ausscheidungsprodukte meinen? Kein Memento sondern ein Alptraum der Fastenzeit, zu der es 2008 in der Grazer Andräkirche präsentiert wurde? Die Oberflächenalchemie Karners, die von Anfang an wichtig war, macht solche Anspielungen möglich.

In Karners ausgeprägten Werkphasen kommt es vor, dass einzelne Elemente ein Eigenleben entwickeln und zu einem neuen Kurs im Gesamtwerk führen. Bei den Tierskulpturen etwa sind es die Trichter und Gussstege. Diese Überbleibsel des Gussverfahrens werden von Karner nicht weggenommen, sondern definieren die räumliche Qualität des Werks. (12/1) Solche bildhauerischen Inventionen führen zu neuen Ideen und neuen Werkgruppen. Die Stege leiten über zu den Stecksystemen, „Hasenloch II“ (2003) (16, 17) oder „Schnabelloch“ (2004), die dezidiert die Skulptur als raumgreifendes Prinzip thematisieren. Der nächste konsequente Schritt um die bildhauerische Raumerfahrung der Stecksysteme zu erweitern, ist die Verwendung von Schlauchsystemen und Körperextensionen in der Performance, wie sie Karner im Stück „karl karner gestorben an…“ vorführt. Andererseits ist in den frühen Tierskulpturen der Jahre 1998-2003 bereits die Schnabelmaske des öffentlichen Körpers angelegt, die später in den Bühnenstücken verwendet wird.

Ebenso wichtig wie formale Beziehungen sind inhaltliche, sozialkritische wie rezeptionsästhetische Aspekte für das Verständnis von Karners Werk, z.B. in „Black boy loves the white boat“ (2007). Ein Schwarzer und ein Schiff… Woran denken Sie zuerst? An ein Flüchtlingsboot oder an ein Sklavenschiff oder an einen schwarzen Jacht-Besitzer? Karners auf einem Aluminium-Tisch monumental präsentierte Installation suggeriert jedes gängige Klischee vom Schwarzen Mann seit Othello. Allein der Titel! „Boy“ ist im amerikanischen Slang die schlimmste Beleidigung für einen Schwarzen. Sie wurde zur Zeit der Sklaverei als Anrede verwendet. Oder „love(s) boat“! Karners schwarzer öffentlicher Körper hat einen Pferdeschwanz und der Mast mit der roten Glühbirne penetriert das spindelförmige weiße Boot. „Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann?“ Lähmt die Macht des Vorurteils in unseren Köpfen die Interpretation des Kunstwerks oder nicht? (54, 55)

Eine ikonografisch konsequente Formensprache und der Einsatz beinahe sämtlicher künstlerischer Medien führen zur Konzeption eines Gesamtkunstwerks, das Genre-Grenzen zwischen bildender und darstellender Kunst transzendiert. Der Schaffensprozess schreitet dialektisch zwischen Bildhauer-Atelier und Bühne voran. Den Anfang bildet Karners konsequentes Handwerk vom Entwurf bis zur fertigen Skulptur. Diese wird zur Installation erweitert, wodurch ein narrativer Kontext entsteht. Die Installation wird zur Kulisse für ein choreografiertes Bühnenstück. Die Bühnenhandlung erprobt und erweitert die Bedeutungen der Skulptur. Das ist der stete Zyklus im Werk von Karl Karner.

Martin Titz

[1] Zahlen in Klammern beziehen sich auf Abbildungen der Werke im Katalog "Karl Karner in der Sammlung Wolf" folgendermaßen: (12/ 1) bedeutet Seite 12, Abbildung 1; (28, 29) bedeutet ganze Seite 28 und 29.